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Essen – Zwischen Köttelbecke und Kanarienvögeln

Essen – zwischen Köttelbecke und Kanarienvögeln. Wer heute im Pott die Stadt Essen besucht, wird unwillkürlich die Zeche „Zollverein“ als eines seiner Ziele benennen. Das UNESCO-Welterbe „Zollverein“, gegründet durch den Industriellen Franz Haniel, ist Ankerpunkt der europäischen Route der Industriekultur und heute ein gelungenes Mahnmal von der Geschichte „Kohle, Koks und Stahl“ in der Region. Was heute dem Besucher ein „Ahh“ und „Ohh“ entlockt, war früher brutalste Knochenarbeit. Mit der Entstehung der Industrialisierung im Ruhrgebiet haben aber nicht nur die Zechen zum heutigen Kult beigetragen, vielmehr sind es die ehemaligen Mitarbeiter und Ihr Umgang miteinander, was die Geschichte vom Ruhrgebiet maßgeblich ausmacht. Es sind die Kumpel im Pott.

 

 

Auch meine Tour beginnt heute auf dem Zechengelände Zollverein. Draußen ist es saukalt, und der Wind offenbart mir schon nach wenigen Metern seine Unbarmherzigkeit. Hau rein! – rede ich mir zu, und bemerkte zeitgleich, dass diese Redewendung hier aus der Region stammt. Hau rein! – das ist im Ruhrgebiet die aufmunternde Aufforderung, sein Ding zu machen, etwas anzupacken und zu Ende zu bringen. Hau rein, ar aber auch zu Kriegszeiten bei den Zwangsarbeitern der Appell mehr zu machen, viel mehr als nur irgendwie möglich!

 

 

So wurde die Ernährung der sowjetischen Zwangsarbeiter und später der italienischen Militärinternierten frühzeitig an deren Arbeitsleistung gekoppelt. Gute Arbeitsleistungen zahlten sich auf den meisten Zechen in zusätzlichen Lebensmitteln aus, die angesichts der viel zu geringen Normal Ernährung aber notwendig waren, um halbwegs die Kräfte zu erhalten und damit in letzter Konsequenz das Überleben zu sichern.

 

 

Schon nach ein paar Kurven entdecke ich vor einem kleinen Förderturm einen überdimensionalen Kanarienvogel. Nicht nur das die Farbe vor Ort absticht, der Vogel war zu frühen Zeiten des Bergbaus, neben der Grubenlampe (Das Geleucht), wichtigster Bestandteil der Bergbauausrüstung Untertage. Der Kanarienvogel war der sogenannte Selbstretter. Er reagierte äußerst empfindlich auf einströmendes Grubengas oder auf Sauerstoffmangel. Wenn so ein Piepmatz verstummte und von der Stange fiel, war es für den Bergmann höchste Zeit, das Weite zu suchen.

 

 

Die Radfahrwege und Straßen sind für mich als verwöhnter Niederrheiner stark gewöhnungsbedürftig. Überall pellt der Belag, und alles ist irgendwie stark in die Jahre gekommen. Das nicht enden wollende sanierungsbedürftige Flickwerk wird größtenteils mit dem PKW Verkehr geteilt und ich merke schnell, dass ich als Radfahrer wenig Akzeptanz erwarten darf. Eine kleine alte Zechenstraße lädt mich in die Vergangenheit ein. Obwohl die Gegenwart hier alles heruntergekommen lassen hat, sieht man noch deutlich die ursprüngliche Bleibe des Kumpels.

 

 

Auch fällt mir seit meiner Tour der Anteil an Ausländisch-Stämmige Menschen extrem auf. Essen mit seiner Zeche Zollverein ist exemplarisch dafür, dass Migration im Ruhrgebiet etwas anderes ist, als man heute damit verallgemeinert bezeichnet. Millionen von Menschen wurden durch das damalige wirtschaftliche Wachstum mit der Aussicht auf gutes Geld für harte Arbeit gelockt, und so wurde wie kaum eine andere Region in Deutschland, das Ruhrgebiet durch die Einwanderung geprägt. Es spielte damals keine große Rolle woher die Menschen kamen, denn es gab zu viel Arbeit die bewerkstelligt werden musste. Wo im Zweiten Weltkrieg die Zwangsarbeit für den wirtschaftlichen Betrieb sorgte, war man später dankbar für jeden neuen Einsiedler aus Polen, Italien, oder der Türkei. Ich finde es sehr angenehm die vielen unterschiedlichen Menschen auf meine Tour begegnen zu dürfen.

 

 

Essen wird schon mal gerne die Hauptstadt des Ruhrgebiets genannt. Als viertgrößte Stadt von NRW hat natürlich jedes Stadtteils einen besonderen Charakter. 50 Essener Stadtteile gibt es, und ein großes Vorurteil, das seit langem kursiert: Die Zweiteilung der Stadt in Nord und Süd, die auch die dort lebenden Menschen trennt. Zwischen Nord und Süd driftet Arm und Reich. Es zieht sich wie eine Grenzlinie die Stadtautobahn (Hauptschlagader) die A 40. Was aber dennoch viele Menschen im Ruhrgebiet, besonders Essen, verbindet, ist die Taubenzucht. Die Taubenzucht ist hingegen seines Klischees nicht nur ein Hobby von pensionierten Arbeitern! Der Ursprung dieser „Ratten der Lüfte“, wie sie gerne abwertend betitelt werden, liegt in der äußerst deutschen Tradition der Brieftaubenzucht.

 

Mit ihnen kann man heute ein Vermögen verdienen. Brieftauben werden längst online gehandelt! Es gibt richtige Taubenbroker , und diese machen Millionenumsätze mit ihrem Spitzengeflügel. Besonders attraktiv ist der Markt in China. Bis zu 300.000 Euro zahlen taubenvernarrte Chinesen für schnelle Flieger. Somit wundert es auch nicht, dass es in Essen eine echte Taubenklinik gibt! Die Taubenklinik des Verbandes Deutscher Brieftaubenzüchter wurde 1972 ins Leben gerufen. Eine bis dahin weltweit einmalige Einrichtung! Hier wird geforscht, operiert und obduziert. Auch ist eine Stationäre Behandlung des Geflügels Gegenstand des Angebotes! Auch bietet der Verband Deutscher Brieftaubenzüchter eine monatliche Zeitschrift.Eine Kostprobe gibt es –>HIER–<

 

 

Hier und da trifft man in Essen auf kleine Flüsse, die keinen natürlichen Ursprung haben. Es sind offene Kanäle, die das Abwasser zur Kläranlage befördern. Hier werden sie liebevoll Köttelbecke genannt. Zu aktiven Zeiten des Bergbaus gab es keine Alternativen zu dieser Form der offenen Abwasserentsorgung. Köttel steht für Kod (bekannt auch von Hasenköttel) und Becke heißt soviel wie der Bach. Irgendwie lustig! Essen ist nicht überall Platt wie eine Flunder. Ich wundere mich, dass es immer wieder tolle Anhöhen gibt, die ein schönes Panorama garantieren. Auch sind zwischen den 60er Jahren Betonreihenhäuser im Norden von Essen immer wieder kleine Fachwerkhäuser, alte Kirchen oder schöne Parkanlagen zu finden. So auch z.B. der Hallopark oder der Hallofriedhof. Oben am Friedhof kann man bis Gelsenkirchen schauen, und man sieht sogar den Herkules auf dem ehemaligen Förderturm der früheren Zeche Nordstern.

 

 

In Sichtweite des Halloparks, im Ortsteil Stoppenberg, steht der Sport im Vordergrund. Die Bezirkssportanlage Am Hallo besteht aus einem Fußball- und Leichtathletikstadion sowie einer modernen Sporthalle. Currywurst und Fußball sind sicherlich nach wie der sicherste Joint-Venture, aber auch beim Minigolfplatz, oder in der Schrebergartenkolonie ist die Wurst im Hallopark allgegenwärtig.

 

 

In Stoppenberg gibt’s auch ein interessantes Gebäude. Der Übungsturm der Freiwilligen Feuerwehr. Durch seine markante Form ist er ein echter Blickfang!

 

 

Mit dem Ortsteil Stoppenberg habe ich übrigens auch meine südlichste Stelle der Tour passiert. Nun geht es wieder in Richtung Zeche Zollverein. Immer in gen Norden erreiche ich dann die alte Kokerei Zollverein. Sie ist heute ein Architektur-Welterbe und Industriedenkmal. Gemeinsam mit der unmittelbar benachbarten Zeche Zollverein wurde auch die ehemalige Kokerei im Jahr 2001 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt. Das Gelände besteht aus Stahl so weit das Auge reicht! Zwei alte Kühlturmrippen wollen Teil meiner Route werden, daneben ein altes Ziffernblatt. Hier wird sich der Zeiger nie mehr bewegen. In der Ferne sieht man das Sonnen – Riesenrad. Das sogenannte Sonnenrad in der Kokerei ist ebenfalls ein toller Hingucker.

 

 

Es handelt sich dabei um ein narbenloses Riesenrad mit 14 Gondeln, das mitten durch die ehemals 1.000 Grad heißen Öfen der Kokerei und weit darüber hinaus fährt. Leider fuhr das Rad nur bis 2010 und durfte danach wegen Reparaturbedürftigkeit nicht wieder für Personen freigegeben werden. Als Wermutstropfen wurde aber im Sommer 2018 ein Freibad aus Überseecontainer gebaut, und im Winter gab es direkt am Boden eine riesige künstliche Schlittschuhbahn.

 

 

Hier an der Kokerei endet meine Tour, denn es ist nur noch ein Katzensprung zurück zur Zeche Zollverein.

 

 

 

 

Fazit

Es ist unglaublich spannend hier vor Ort. Wenn das Wort „Unterschiedlich“ noch nicht erfunden wäre, so würde das Wort seinen Ursprung in Essen finden. Du liebst mich für alles, wofür Du mich hasst, könnte bestimmt als Tätowierung zum Thema Ruhrgebiet Karriere machen!

 

 

 

Total distance: 18 km
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